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Schwule Nonnen gegen Aids

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Ganz zart trägt Tino mit dem Pinsel die weiße Farbe rund um die Augen auf. Über die Brauen setzt er Glitzerpünktchen. Auf die blutrot geschminkten Lider kommen imposante Kunstwimpern - Tinos Handgriffe sind gekonnt. Mit jedem Pinselstrich scheinen seine Augen mehr von innen zu leuchten. So, als würde jede neue Make-up-Schicht ihn noch stärker machen, als er ohnehin schon ist. Denn Seelenstärke besaß Tino schon immer. Schon als Schüler ließ sie ihn immun werden gegen die Handgreiflichkeiten und brutalen Zoten der Drewitzer Jungs, die über Tinos weibliche Seite lästerten. Und die ihm bisweilen sogar wünschten, er möge irgendwann Aids kriegen und zugrunde gehen, "an dieser Schwulen-Krankheit".

Jetzt ist das Make-up fertig. Tino streift ein Paillettenshirt über, das eigentlich seiner Mutter gehört. Ins Handtäschchen stopft er Kondome mit witziger Aufschrift ("Mein bester Aufriss heute") und dann stapft er hinaus in die Winterkälte. Der Rock flattert im Wind, genauso wie der Schleier an Tinos Glitzerhaube. Die Absätze seiner Lackstiefel klackern übers Pflaster am Nauener Tor, und den Leuten bleibt der Mund offen stehen. Ein Junge zückt das Fotohandy; fragt: "Warum hat ein Kerl Frauenklamotten an?" - "Weil es mir gefällt - und weil es für einen guten Zweck ist."

Denn Tino, der im Brotberuf als Koch arbeitet, ist auf dem besten Weg, die erste schwule Nonne Potsdams zu werden. Künftig will der Zwanzigjährige als Mitglied im weltweiten "Orden der Schwestern der perpetuellen Indulgenz" Info-Arbeit zu Aids und HIV leisten und Spenden sammeln. In Deutschland ist der Orden ein eingetragener, von der Deutschen Aids-Hilfe anerkannter Verein.g2Als der Orden geboren wurde, war Tino noch lange nicht auf der Welt. Alles begann 1979 in San Francisco. Damals litt die Schwulen-Gemeinde unter den Übergriffen einer Gang. Einige Schwule hatten noch Nonnenkostüme von einer Aufführung des berühmten Musicals "Sound of Music" im Schrank - so ausstaffiert und mit Zigarre im Mund, stellten sie sich den Angreifern.
Später ging es den Schwestern nie mehr um Keilereien, sondern um den Kampf fürs Karitative. Anfang der 80er Jahre verschrieben sie sich dem Aufklärungsfeldzug gegen die neue Seuche Aids. Sie zählten zu den ersten, die Info-Broschüren herausgaben und Benefizgalas organisierten. Heute hat die Gemeinschaft weltweit 1500 Mitglieder mit Ordenshäusern in Australien, Lateinamerika und europäischen Ländern. In Berlin gehen etwa 20 Schwestern ihrer Berufung als Teilzeitnonnen nach, gewandet in schrill-schöne Trachten. "Manche Leute glauben ja, dass wir die katholischen Nonnen verhöhnen wollen", erzählt Schwester Aura, eine imposante Erscheinung mit leuchtendrot gefärbtem Bart. Aura ist gerade auf Potsdam-Visite, um Tino in die Ordenshistorie einzuführen. Beim Gedanken an etwaige Verhöhungsabsichten kann sie nur mit den sanften braunen Augen rollen. Immerhin pflege man in Berlin ganz ausgezeichnete Beziehungen zu zwei "zauberhaften" katholischen Nonnen, die in der Hospizarbeit tätig sind - gemeinsames Kaffeekränzchen inklusive.

Zudem verstehen sich die "Schwestern der perpetuellen Indulgenz" (zu Deutsch: "Schwestern der immerwährenden Nachsicht") absolut nicht als Paradiesvögel, denen es nur um Halligalli geht. Natürlich sind die Schwestern meist in Szeneklubs unterwegs - aber dort kommt man eben am leichtesten mit der Zielgruppe ins Gespräch. "Wir informieren über Beratungsstellen und Ärzte, verteilen Kondome und sammeln Spenden, die dann Aids-Projekten zugute kommen", erklärt Aura, die ihr Geld als Projektleiter in der Baubranche verdient und viele Stunden ins schwesterliche Ehrenamt steckt. Ganz klar, dass sie dann auf jegliche Lustbarkeit verzichtet: "Wir halten uns als Schwestern natürlich ans Keuschheitsgelübde.“

Auch sonst sind die Regeln sehr präzise. Genau wie bei den richtigen Orden, absolviert man bis zur Weihe verschiedene „Lehrlings-Stufen": Aspirat, Postulat, Noviziat - insgesamt gut zwei Jahre, Schulungen inklusive.
Die Themen reichen vom Umgang mit Trost- und Ratsuchenden bis zur Farbsymbolik beim Schminken:
Weiß steht für die Trauer um unsere Verstorbenen", so Aura, "Rot für die Lebensfreude, die wir dagegensetzen."
Dass das Leben oft an einem Stück Gummi hängen kann - das ist die Botschaft, die auch Tino als künftige Schwester in Potsdams Schwulenkneipen und in der Stadt unters Volk bringen will. „Viele Jugendliche sehen es ganz locker, wenn sie beim Sex kein Kondom zur Hand haben." Die tödliche Bedrohung durch HIV gehört für sie einer anderen Epoche an. Sie setzen die modernen, durchaus lebensverlängernden Therapien mit einer kompletten Heilung gleich; verkennen jedoch die verheerenden Nebenwirkungen der hochaggressiven Medikamente. Derzeit sind im Bergmann-Klinikum 110 Patienten aus ganz Brandenburg in Behandlung. Allerdings lassen sich etliche erkrankte Potsdamer lieber in Berlin behandeln - der Anonymität wegen. Aus Angst vor Ausgrenzung wird die Krankheit oft vor Arbeitgebern verschwiegen; Jugendliche wagen nicht, sich ihren Eltern zu offenbaren. Sichtlich betroffen erzählt Tino von einem Bekannten, der die Diagnose "HIV positiv" kriegte: "Der versucht jetzt einfach, das zu verdrängen.“

Er selbst hat sich beim Sex immer konsequent geschützt - schon allein seiner Familie wegen, mit der er sich toll versteht. "Meine zwei älteren Schwestern erinnern mich oft, ja ein Kondom einzustecken", erzählt er mit seinem lieben Gesichtsausdruck, während er mit Nonnenhaube und Glitzertop durch die Friedrich-Ebert-Straße stöckelt. Eine ältere Dame bleibt stehen; schaut rauf und runter;
fragt: "Was für einer sind Sie denn?" Tino lächelt: "Ich bin ich." Die Dame lächelt auch: "Dann sind Sie ja jemand Hübsches."


Autorin: Ildiko Röd
Foto: Adolar
Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung (2010)