Draussen sangen die Vögel
[Königs Wusterhausen] Wir schreiben das Jahr 1998, Frank Sinatra war gerade gestorben. In einem Weinladen in Königs Wusterhausen, nahe Berlin, stand der schwule André hinterm Tresen und wartete auf Kundschaft. Als er wohl gerade an Männer dachte, ging die Tür auf und vier Jungs kamen herein. Wenn man vom Teufel spricht! Sie waren jung, knackig und sahen extrem gut aus. André konnte sein Glück kaum fassen, seine Hände begannen zu zittern. Er musste sich an der Kasse festhalten, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Es stellte sich heraus, dass sie
ebenfalls schwul waren und so stieß man mit einem Gläschen Prosecco an, um das Leben und die Liebe zu feiern. Während sich erste Gespräche entwickelten, untermalte das Zwitschern der Vögel die Situation in schillernden Farben. Fünf Schwule in Königs Wusterhausen?
Das hätte André zuvor nicht für möglich gehalten. Dachte er doch immer, dass er der einzige sei und dass ihm früher oder später nur der Umzug in die Großstadt bliebe, um der Vereinsamung zu entfliehen, um Gleichgesinnte zu finden. Vielleicht sogar die große Liebe, wer weiß? Bei einem Glas Prosecco sollte es nicht bleiben, es perlte fortan flaschenweise am Tresen und das jeden Montag. Der Weinladen in KW, wie die Einwohner den Ortsnamen abkürzen, wurde zum Geburtsort einer lebenden Legende: einer der ältesten und geschichtsträchtigsten schwulen Initiativen Brandenburgs, dem Gay-Stammtisch KW.
Die weitere Entwicklung geriet für unsere Helden zur Berg- und Tal-Fahrt. Mit dem Wachstum der Runde entwickelten sich sowohl Chancen als auch Probleme. Krisen und Ernüchterung wechselten sich ab mit Höhenflügen und gigantischen Projekten. Doch der Reihe nach. „Wie soll es weiter gehen?“, fragten sie sich eines Tages, es konnte doch nicht immer nur ums Trinken gehen. Auch sollten neue Themen und Gesichter für frischen Wind sorgen. Es musste doch noch mehr Schwule geben da draußen, in und um KW, die allein waren, die Spaß und Anschluss suchten? Die Lust auf einen regelmäßigen Treffpunkt und gemeinsame Unternehmungen hatten. Die über Probleme mit dem Coming Out reden wollten oder über Liebeskummer – und zwar in ihrer eigenen Stadt, auch wenn Berlin ganz in der Nähe war. Berlin hatte für Schwule viel zu bieten: Glanz und Gloria, Freiheit und Ausschweifung. Doch die große Szene wirkte auf viele einfach nur kalt. Anonymer Sex, Drogen und rein strategische Bekanntschaften erschienen oft wichtiger als Rückhalt und Vertrauen. Menschliche Wärme suchte man dort vergebens. Man wollte es besser machen. Die fünf Schwulen schalteten Anzeigen in einer regionalen Tageszeitung und bereits nach einem halben Jahr war die Gruppe auf 43 Leute angewachsen. Viele kamen direkt aus KW, andere aus kleineren Nachbarorten wie Wildau oder der Flughafen-Gemeinde Schönefeld und manchen war der Stammtisch sogar die Anreise aus Berlin und teils weit entfernten Regionen des Landes wert. Schwules Internet-Dating war damals noch ein Fremdwort. Das queere Netzwerk wurde immer größer und dichter, sein guter Ruf zog immer weitere Kreise.
So entschied man sich, nach dem Wechsel des Treffpunkts in ein italienisches Restaurant, das ganze offiziell zu machen. Mit der Vereinsgründung im Jahr 1999 begann für die nun Schwul-Lesbische Initiative Königs Wusterhausen e. V. ein neues Zeitalter. Die Jahre 1999 bis 2001 sollten als Goldene Ära in die Annalen des Stammtischs eingehen. Vereinsausflüge zu nahen Großveranstaltungen wie dem CSD Berlin, auf dem man zeitweise mit eigenen LKWs vertreten war, zum Baumblütenfest in Werder oder Kanu-Touren im Spreewald waren beliebte Highlights. Man veranstaltete Gay-Partys, ging campen und richtete im Jahr 2000 sogar einen eigenen CSD in Königs Wusterhausen aus – damals noch unter Polizeischutz. Ihr schwul-lesbisches Straßenfest mit großer Bühne fand als Abschluss-Veranstaltung der „LesBiSchwulen T*our“ statt, einer Aufklärungs- und Akzeptanzkampagne, die bis heute jährlich durch brandenburgische Städte zieht. Auch Schulaufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten stemmten die engagierten Vereinsmitglieder in Zusammenarbeit mit dem Land. Zumindest, bis die Apokalypse über den Verein hereinbrach. Der Knall, der alles in Stücke riss, was über Jahre aufgebaut, institutionalisiert und andernorts zum Vorbild geworden war. Die Explosion, die die Schwulen von KW in die Zerstreuung trieb und die Strukturen ihrer Community pulverisierte. Uneinigkeit, Machtkämpfe und Misstrauen versetzten dem Verein im Jahr 2002 den Todesstoß. Ende der Fahnenstange, die Regenbogenfahne wurde eingeholt, jeder ging ab sofort seine eigenen Wege.
Erst 2004 kam man sich allmählich wieder näher und nach einer Phase der Grüppchenbildung wagte man zusammen den Neuanfang. Heute findet der Gay-Stammtisch KW jeden Sonntag statt, auch im Internet-Zeitalter ist die Nachfrage ungebrochen. Seit 2011 sorgt der Stammtisch als Kooperationspartner des queeren Landesverbands Bündnis Faires Brandenburg e. V. auch landesweit für Aufsehen. So richtete er 2012 das Gay-Sommer-Camp in Prieros aus, eine Kennenlern-Plattform für Schwule aus Berlin und Brandenburg, die einen so großen Ansturm zu verzeichnen hatte, dass selbst die Veranstalter staunten. Die Zukunft bleibt spannend, wie Stammtisch-Leiter Rudi uns verriet: „Wir haben jede Menge Ideen für weitere coole Aktionen. Seid gespannt und schaut doch einfach mal vorbei!“.
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Autor: Martin Bach
Bild: pixelio | Karl Dichtler
WWW.GAY-STAMMTISCH-KW.DE [Martin Bach]