Stadt Land Fluss
STADT LAND FLUSS
130 Kilometer trennen beide Ortschaften voneinander: Golzow im Oderbruch. Und Jänickendorf im Nuthe-Urtstromtal. Beide Orte scheinen auf den ersten Blick ziemlich unspektakulär zu sein, sieht man von dem Phänomen ab das deren Einwohner allmählich aussterben. Es sind Ortschaften, wie man sie überall in Brandenburg finden kann; bunt verstreute Ansammlungen von kleinen Wohnhäusern und ein Ortskern entlang einer asphaltierten Landstraße. Größter Arbeitgeber ist der örtliche Landwirtschaftsbetrieb, der die Ackerflächen der Umgebung bestellt. Der spröde Charme der verblichenen LPG geht von diesen Betrieben aus. Grau verputzte Häuser, große Betonplatten anstatt Straßen, Hallen in Leichtbauweise, deren Bewohner wahlweise Schweine, Rinder oder Berge von Rüben sind; ein funktionaler Mikrokosmos mit Ausblick auf den Acker.
Marko ist Azubi im Jänickendorfer Agrarbetrieb. Seine Prüfung zum Landwirt steht bald bevor, routiniert und einigermaßen teilnahmslos arbeitet er die täglichen Aufgaben ab. Ein Typ, der sich von seinem Alltagsleben genauso distanziert zu haben scheint, wie von den Kollegen im Betrieb. Er ist anwesend und funktioniert. Das hat er mit seinem Arbeitsplatz gemein. Marko - ein leicht muskulöser, junger Kerl Anfang 20, prägnantes Gesicht; die Hauptfigur in Benjamin Cantus Spielfilm STADT LAND FLUSS.
Wie wird Markos Leben wohl verlaufen, wenn er die Abschlussprüfung bestanden hat? Wohin verschlägt es ihn? Bleibt er in seinem Betrieb? Es hat nicht den Anschein, als ob er noch allzu viel erwarten würde, sein Weg scheint vorgezeichnet. Seine Ausbilder bzw. seine Chefin zeigen, wohin es gehen könnte. Ihre Generation, Frauen und Männer von Mitte bis Ende 50 hätten genauso gut in jener Grundschul-Klasse sitzen können, die das Ehepaar Junge 1961 für ihr Dokumentarfilmprojekt DIE KINDER VON GOLZOW herausgriffen. Von 1961 bis 2007 verfolgten Winfried und Barbara Junge die Lebensläufe von Kindern der Grundschule Golzow. Die Schulzeit, die Ausbildung in einem Betrieb, vor allem dem örtlichen Agrarkombinat Golzow. Danach folgte häufig Militärdienst für die Männer und Kinder für die Frauen. Alltag über fast 30 Jahre – bis die Wende kam und die vorgezeichneten Lebenswege mit einmal verwischt waren wie Kreide an der Tafel. Doch die Äcker und das Vieh mussten weiter bewirtschaftet werden. Die politischen Systeme wechselten, der Betrieb und die Arbeit blieben, und mit ihnen die Menschen.
Stellen wir uns vor Winfried Junge würde noch immer mit seiner Kamera unterwegs sein. Und anstatt ins Oderbruch, wäre er 1961 ins Nuthe-Urstromtal gefahren. Denken wir für einen kurzen Moment, dass Markos Ausbilderinnen Frau Thymian und Frau Butsch jene "Kinder" wären, die immer noch ab und zu Auskunft über ihr Leben geben. Dann sitzt Frau Butsch im unscheinbaren Pausenraum des Betriebs, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Vor ihr die Kamera, aus dem Hintergrund stellt Winfried Junge seine insistierenden Fragen: „Wie fühlt sie sich, so mit den jungen Leuten um sie herum?“ – „Macht der Beruf noch Spaß?“ – „Ist die Arbeit anders geworden, im Gegensatz zu früher?“ Vor der Kamera sitzen auch einige Azubis von Frau Butsch. Unsicher und deplatziert wirken sie, mit leiser Angst davor von einer Frage erwischt zu werden. Und genau das passiert dann: „Marko, erzähl doch mal – was ist die Frau Butsch für eine Chefin?“ Zögern liegt in seiner Stimme - „Die Frau Butsch ist schon ok – streng, aber auch locker.“
Im Gegensatz zu Marko ist die resolute Frau Butsch keine Erfindung des Drehbuchs zu STADT LAND FLUSS. Sie existiert wirklich, genauso wie der Agrarbetrieb in Jänickendorf, die anderen Azubis und Phillip, der Zuchtbulle der betriebseigenen Rinderherde. Regisseur Benjamin Cantu hat seine Erzählung in das Geschehen des Betriebs eingeflochten. Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem fiktionalen Kern des Films und seiner dokumentarischen Schale, dass die Wirkung von STADT LAND FLUSS noch weit über das reine Kinoerlebnis hinaus verlängert. Der Kern, das ist die Annäherung von Marko und Jacob. Jacob kommt als Praktikant in den Betrieb und erregt Markos Aufmerksamkeit. Nicht nur, weil Jacob mit seiner abgebrochenen Lehre als Bankkaufmann aus einer völlig anderen Welt kommt. Wo sich Marko von seiner Umwelt abzuschotten versucht, scheint Jacob regelrecht aufzublühen, die Freiheit der Landschaft und das Körperliche der Arbeit auszukosten. Die Kamera begleitet ihn, fängt Jacobs neue Freiheit in lebendigen und poetischen Bildern ein. Die Poesie ist ein Teil dieses Films, wie es die Realität auch ist. Beide ergänzen einander und schaffen einen fesselnd seltsamen Zwischenraum, wie er wohl nur im Kino entstehen kann. In diesem faszinierenden Ort siedelt Benjamin Cantu seine Liebesgeschichte an. Wobei: Liebesgeschichte, im filmischen Sinne, ist ein zu starkes Wort. Romanze. Erwachen. Erkunden. Berlin, die Großstadt als ultimativer Sehnsuchtsort so vieler Coming-of-Age-Filme, sie ist weit weg und wird auch nur eine Randerscheinung bleiben. Diese Zwei bleiben in Jänickendorf - vorerst. Ob und wie ihre Romanze weitergehen wird, ist der Vorstellung des Zuschauers vorbehalten: „Was wäre, wenn …“
Was wäre, wenn es auch unter den Kindern von Golzow einen Marko oder einen Jacob gegeben hätte? Wo waren sie? Haben wir sie gesehen? Sicherlich. Vermutlich. Nur hat uns niemand ihre Geschichten erzählt. Bis heute. Benjamin Cantus STADT LAND FLUSS schließt diese filmische Leerstelle auf die beste aller Möglichkeiten. Ein Glücksfall.
Autor: Manuel Schubert
D 2011, 87 Minuten, Regie & Buch: Benjamin Cantu, Darsteller: Lukas Steltner, Kai-Michael Müller, Produktion & Verleih: Edition Salzgeber
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